Schule soll uns glücklich machen
„Inspiration Zukunft“: Wolfgang Held präsentiert Pädagogik des Augenblicks
Soest – Was sind die Herausforderungen unsere Zeit? Und wie muss Schule darauf reagieren? Auf diese beiden Kernfragen gibt Wolfgang Held während seines Vortrag an der Freien Waldorfschule Soest inspirierende Antworten. „Unsere Zeit ist geprägt von Widersprüchen. Deshalb ist Aufmerksamkeit die Währung des 21. Jahrhunderts“, sagt er. Und: „Lehrer müssen heute aus der Nähe erziehen. Das ändert alles.“
Ein Mann aus Dornach, aus der Zentrale der Anthroposophischen Gesellschaft, zuständig für Kommunikation, zudem als Autor von Kolumnen und Büchern bekannt: Kann der uns an unserer Schule etwas über Pädagogik erzählen? Kann er – im Alltag weit weg von den tägliche Herausforderungen eines Lehrers – uns etwas mitgeben in den Schulalltag? Wer mit kritischen Fragen wie diesen Platz nimmt im Saal der Schule, wird eineinhalb Stunden später applaudieren, mit einem uneingeschränkten „Ja“ antworten. Denn Wolfgang Held gelingt zur Premiere der neuen Vortragsreihe „Inspiration Zukunft“ ein Kunststück: Was er auf der Bühne zelebriert, entspricht ziemlich genau seinen Forderungen an den Unterricht der Zukunft.
Doch gehen wir zuerst einen Schritt zurück und fragen, wieso einer wie Held sich auf den Weg macht in die Provinz nach Westfalen. Die Antwort ist Teil seiner Philosophie: Als nämlich Olivia Vitt ihn im Sommer reden hörte, stand für sie fest: Der Mann muss an unsere Schule kommen. Die Zwölftklässlerin schrieb eine Mail – abends um 22 Uhr. Etwa eine halbe Stunde später hatte sie Antwort – eine Zusage. Ist das die Aufmerksamkeit und Nähe, die Wolfgang Held von einem zukünftigen Unterricht fordert?
Zurück in den Soester Saal: Da singt der dreifache Vater Held das hohe Lied dieser Aufmerksamkeit. „Der Mensch ist wie verzaubert, wenn er wirklich angesehen wird“, sagt er. Da ist er schon unterwegs auf der kleinen Bühne, eilt zur Tafel, schreibt „… und sucht die ganze Gemeinschaft“, dreht sich, blickt einen Moment ins Publikum – macht eine Kunstpause.
Schritt für Schritt entwickelt er seine „Sieben Kernpunkte einer menschlichen Pädagogik“. Der Besucher merkt, wie das Gerüst steht, aber das Drumherum, die Beispiele, die Anmerkungen und Querverbindungen, die entwickelt Wolfgang Held aus der Situation heraus. „Der Lehrer muss den Stoff an den Schülern fortwährend neu bilden“, sagt er; dann spricht er über den Segen der Digitalisierung, einen Augenblick später über die menschliche Empathie. „Das ist das, was ein Computer nicht kann. Das ist das, was wir an unseren Schulen brauchen.“ Es ist das, was Wolfgang Held in diesem Moment vorführt.
Der Kern der schulischen Neuausrichtung ist schnell erzählt: In einer Zeit voller Unsicherheiten und Widersprüche, in einer Zeit zerfallender Systeme müsse Schule Orientierung geben. „Die Pädagogik ist so wichtig, weil die Welt heute virtuell geworden ist, gleichzeitig aber auch persönlich. Sie ist warm und kalt, gerecht und ungerecht. Diese so widersprüchliche Welt ist eine lebendige Welt. Und deshalb sind heute alle auf Augenhöhe – immer gleichzeitig Schüler und Lehrer“, lautet die Botschaft. Das hat Folgen: „Der Zauber des 20. Jahrhunderts ist, dass Freiheit die Ordnung ersetzt hat. Deshalb muss in der Schule aus Dominanz jetzt Präsenz werden. Das führt zwangsläufig zu einer Pädagogik auf Augenhöhe. Gelingt das, ist es wie eine Medizin für den Unterricht.“ Held blickt zurück in die eigenen Schullaufbahn, erinnert sich an die letzten Schläge seiner Lehrer, daran, dass Ordnung oberstes Gebot war „und hinter dem Lehrer die ganze Gemeinschaft stand“.
Dann springt er zurück in die Gegenwart, diagnostiziert den „heutigen Menschen mit dem Drang des ewigen Lernens“, untermauert die Idee mit Hermann Hesses Gedicht „Stufen“, zitiert „Es wird auch noch die Todesstunde, uns neuen Räumen jung entgegen senden“; Held spricht das Publikum mit „Sie oder Ihr“ an, besinnt sich – meint, dass angesichts einer nie dagewesenen Nähe demnächst das „Sie“ verschwinden werde.
Überhaupt die Beispiele. „Was willst Du später einmal werden“, habe die Lehrerin John Lennon einst gefragt. Als der „glücklich“ antwortete, meinte die Lehrerin, er habe die Frage falsch verstanden. Und John Lennon konterte: „Nein, Sie haben das Leben falsch verstanden.“
Die Kunst: Immer dann, wenn das Publikum einen Moment lang unkonzentriert wirkt, zieht Held eines seiner Beispiele heraus, bringt die Aufmerksamkeit zurück nach vorn an die Tafel.
Beispiele gibt es auch aus seinem Buch „Das ist Waldorfschule!“. Darin sucht der Autor nach dem, was einen Schüler tatsächlich ausmacht, nach dem Kern seines Wesens. Wolfgang Held fragt nach vorgeburtlichen Visionen, nach der Neugier an der Gemeinschaft, erzählt vom Lernen einer Viererreihe zuerst mit den Füßen, dann mit den Fingern, schließlich mit dem Verstand; er erzählt von der Kunst, die Schüler durch gute Zeiteinteilung über Nacht lernen zu lassen und betont immer wieder die wunderbare Einzigartigkeit jedes Schülers. „Im Antlitz, da ist der letzte Zipfel der Seele sichtbar“, sagt Held. Dann wieder hält er inne, sagt Sätze wie: „Ich weiß wie schwer das ist, wenn man in eine Klasse von Neuntklässlern kommt, die zwei Stunden lang gerechnet haben. Da stinkt es einfach ganz fürchterlich, da ist alles voller pubertärer Ausdünstungen.“ Gegensätze auch hier. Held versucht sie zu verbinden, Unterricht ganz zu greifen.
Schließlich das Finale. „… und sucht den Menschen, um Mensch zu werden“, schreibt er an die Tafel. Ungesagt bleibt, was in Wolfgang Helds Buch als Einleitung über diesem Kapitel steht: „Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich erziehendes Kindes. Wir müssen die günstigste Umgebung abgeben, damit an uns das Kind sich so erzieht, wie es sich durch sein inneres Schicksal erziehen muss.“ Ein Zitat Rudolf Steiners. Im Saal schwebt auch ohne dieses Wort so etwas auf wie liebendes Einvernehmen, eine Vision gemeinsamen Glücks – auch im Klassenraum. Held schränkt wieder ein, sagt: „Um diese Idee in Schulalltag lebendig werden zu lassen, braucht es eine veränderte Haltung – und viel Aufmerksamkeit.“
Wie das mit der Aufmerksamkeit klappen kann angesichts vieler Pädagogen, die bis über beide Ohren in Arbeit stecken? Wolfgang Held: „Ich hoffe, dass die Digitalisierung uns in die Lage versetzt, dass ein Lehrer in Zukunft noch maximal 10 Stunden in der Woche arbeiten muss. Das ist aus meiner Sicht die absolute Obergrenze.“
Womöglich wird dann Realität, was als unausgesprochene Überschrift dieses Abends schon lange im Saal schwebt. Wolfgang Held: „Schule soll uns glücklich machen.“
Literatur
„Das ist Waldorfschule – Sieben Kernpunkte einer lebendigen Pädagogik“ heißt das Buch, das Wolfgang Held nach dem Besuch von 12 Waldorfschulen im August 2019 veröffentlichte. Auf 221 Seiten wirft der Autor einen Blick auf unsere widersprüchliche Zeit, entwickelt die Kernpunkte der Waldorfpädagogik und gibt schließlich Einblicke in die Schulbesuche.
Verlag Freies Geistesleben, ISBN 978-3-7725-1419-7